Sehnsucht nach beiden Ufern

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    Bisexualität? Eine Phase, die vorbei geht, sagen manche. Unentschlossenheit, sagen andere. Stimmt alles nicht, sagt die bisexuelle Psychologin Ursa Sigrist*.


    INTERVIEW VON MARKUS FÖHN


    Ursa Sigrist, für viele heterosexuelle Menschen scheint klar: Bisexuelle können sich nicht entscheiden.


    Ursa Sigrist: Ich kenne dieses Vorurteil, aber es ist falsch. Bisexuelle fühlen sich ganz einfach zu einem Menschen hingezogen, ohne dass das Geschlecht dabei eine Rolle spielt.


    Viele Heterosexuelle denken auch: Bisexuelle leben in Dreierbeziehungen.


    Ursa Sigrist: Dreierbeziehungen können vorkommen, sicher. Aber eine Ménage à trois hängt nicht mit der sexuellen Orientierung zusammen, das gibt es bei Hetero- und bei Homosexuellen ebenso. Es sind oft Männer, die uns das unterstellen, eine Art Wunschdenken. Eine Männerfantasie.


    Wenn das alles Vorurteile sind wie sind Bisexuelle dann?


    Sigrist: Bisexualität eine eigenständige sexuelle Orientierung, kein Ausdruck von Unentschlossenheit. Bisexuelle leben in serieller Monogamie wie andere auch, haben also nur eine Partnerin oder eine Partner. Oder sie haben parallel laufende Beziehungen oder Dreiecksbeziehungen so, wie das überall vorkommt.


    Es gibt Schätzungen, wonach in der Schweiz zwei Millionen Menschen bisexuell sind. Stimmt das?


    Sigrist: Diese Zahl ist viel zu hoch. Vielleicht haben zwei Millionen Schweizer einmal sexuelle Erfahrungen mit dem gleichen Geschlecht gemacht. Zur Bisexualität bekennen sich aber lediglich zwischen einem und drei Prozent der Schweizer.


    Wann ist man eigentlich bisexuell?


    Sigrist: Bisexuell ist, wer sich selber als bisexuell definiert. Oftmals verhalten sich Menschen zwar bisexuell, würden sich aber nie so bezeichnen.


    Wie meinen Sie das?


    Sigrist: Es gibt Menschen, die sagen: So, hier bin ich, ich stehe auf beide Geschlechter und lebe das auch aus. Und es gibt Menschen die erleben Bisexualität auf einem anderen Niveau.


    Zum Beispiel?


    Sigrist: Manche haben eine Lebensphase mit bisexuellen Erfahrungen, dann ist das wieder vorbei. Andere leben zwar in einer gegengeschlechtlichen Beziehungen und sind glücklich dabei, haben aber erotische gleichgeschlechtliche Fantasien. Wieder andere fühlen sich ganz einfach emotional zum gleichen Geschlecht hingezogen.


    Ohne aber das andere Geschlecht missen zu wollen?


    Sigrist: Genau. Ich kenne Frauen, die haben zwar eine sexuell gelebte Beziehung zu einem Mann, ihre sozialen Kontakte aber beschränken sich auf andere Frauen weil sie sich dort verstandener und aufgehobener fühlen.


    Welchem Geschlecht gehören Bisexuelle eigentlich eher an?


    Sigrist: Es gibt dazu keine Zahlen, ich vermute aber, dass es eher Frauen sind. Schon alleine deshalb, weil unter Frauen mehr körperliche Nähe zugelassen ist als unter Männern. Aber das kann täuschen. Und vergessen wir nicht: Es gibt verheiratete Männer, denen ihre Freundschaften fast wichtiger sind als die Beziehung zu ihrer Frau. Oder sie haben regelmässig Sex mit Männern.


    Und warum verstehen sie sich denn nicht als bisexuell?


    Sigrist: Zum Einen, weil sie dann mit den Vorurteilen konfrontiert würden, die wir angesprochen haben. Zum Andern, weil sie sich ganz einfach nicht über ihre Sexualität identifizieren lassen wollen.


    Schwule und Lesben treten da wesentlich selbstbewusster auf.


    Sigrist: Das stimmt. Ihnen ist es gelungen, die Worte "schwul" und "lesbisch" so zu besetzen, dass dabei nicht gleich die Sexualität in den Vordergrund gerückt wird. Wenn wir heute diese Worte hören, denken wir an eine Lebensart, an eine Subkultur. Und bei "Bisexuell"? Da ist die Sexualität ja schon in der Bezeichnung drin.


    Müsste ein neues Wort her.


    Sigrist: Ich rede jeweils von "gleichgeschlechtlich liebend". Weil Liebe etwas ist, das alle nachvollziehen können, unabhängig von der sexuellen Orientierung.


    Sich zu verlieben ist an sich schon eine verwirrende Angelegenheit. Ist es emotional nicht furchtbar anstrengend, sich einmal in eine Frau zu verlieben, und dann wieder in einen Mann?


    Sigrist: Ich habe mich mit 13 in einen Jungen verliebt und mit 15 in ein Mädchen. Mir hat das keine Schwierigkeiten bereitet, aber das ist von Person zu Person verschieden. Natürlich, mit 18 dachte ich dann: Was bin ich eigentlich?


    Wann haben Sies herausgefunden?


    Sigrist: Bald danach, als ich mit der Popgruppe "Queen" in Berührung kam und deren Sänger Fredy Mercury, von dem man immer munkelte, er sei bisexuell.


    Haben Sie nie darunter gelitten, ihre sexuelle Neigung öffentlich gemacht zu haben?


    Sigrist: Nein, ich habe nie Diskriminierung gespürt. Vielleicht, weil ich eine dicke Haut habe und sozial immer gut eingebunden war.


    Wie ist eigentlich das Verhältnis der Bisexuellen zur Schwulen- und Lesbenszene?


    Sigrist: Es ist besser geworden. Früher warf man uns beinahe Verrat vor. Bisexuelle seien Opportunisten, die sich je nach gesellschaftlichem Umfeld mit einem gleich- oder gegengeschlechtlichen Partner zeigten, hiess es. Die Bisexuellen haben die Schwulen- und Lesbenszene verwirrt.


    Weil Bisexualität so viele Möglichkeiten offen lässt?


    Sigrist: Eindeutig. Wir sind in dieser Heterozentrierten Gesellschaft von einem Entweder-Oder-Denkschema geprägt. Entweder Hetero- oder Homosexuell. Dabei liegen die meisten Menschen irgendwo dazwischen.



    *Ursa Sigrist (44) ist Psychologin. Sie war 1994 an der Gründung einer bisexuellen Frauengruppe beteiligt und ist unter anderem für das "Lilaphon" tätig eine Auskunfts- und Beratungsstelle für lesbische und bisexuelle Frauen (www.lesbian.ch/lilaphon).




    BISEXUALITÄT


    Sind alle bisexuell?


    Bisexualität bedeutet das Nebeneinander von hetero- und homosexuellen Neigungen und Beziehungen. Bloss ist es schwierig, den Begriff genau einzugrenzen. Denn: Wo beginnt Bisexualität? Ist bisexuell, wer sexuelle Erfahrungen mit beiden Geschlechtern gemacht hat? Einmal? Immer wieder? Die Schätzung, wonach 1 bis 3 Prozent der Schweizer Bevölkerung bisexuell veranlagt seien, ist also mit Vorsicht zu geniessen.
    Sigmund Freud vertrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ansicht, alle Menschen seien im Kern bisexuell. Der US-amerikanische Sexualforscher Alfred Charles Kinsey kam nach Studien Ende der Vierzigerjahre zum Schluss, dass insgesamt nur gerade
    5 Prozent aller Menschen ausschliesslich hetero- oder homosexuell veranlagt seien. Die übrigen 95 Prozent lägen irgendwo dazwischen.