Carolin Emcke: Wie wir begehren. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, Juni 2013

  • Zwei Auszüge aus dem Buch


    Die Lüge ist zu einem Lebensgefährten geworden. Den Satz habe ich dreimal geschrieben und wieder gelöscht. Ich wünschte, es wäre nicht wahr, und deswegen überschreibe ich, lügend, den Satz wieder, aber er bleibt wahr. Die Lüge begleitet mich. Auf allen Reisen. Die Lüge bietet sich an, drängt sich auf, die Lüge steht bereit, sie bedroht die Wahrheit. Es gibt Kreise von Wahrheiten, von unterschiedlichen Graden an Wahrheiten, sie legen sich um den innersten, die eigene Lust, das lebendige, sich wandelnde, vertiefende Begehren. Und das Sprechen darüber.


    Es gibt das Schweigen, das liegt dem Kern am nächsten, es drängt sich wie ein Schutzschild vor die Wahrheit und umschliesst sie, dann gibt es Ringe aus erweiterten Wahrheiten oder verkürzten, es gibt Lücken, unbeschriebene Fläche, Geschichte, die ausgelassen oder verändert werden, manchmal nur in Teilen, manchmal ganz, und, zuletzt, im äussersten Ring, liegt die blanke, unverfälschte Lüge.


    Das ist vermutlich nichts Besonderes. Die meisten Menschen leben in ebensolchen Kreisen aus Schweigen und Sprechen, nur liegt im Kern nicht immer das Begehren, sondern etwas anderes, manchmal wird aus Vergesslichkeit geschwiegen, weil nicht wichtig ist, nicht bedeutsam genug, manchmal wir aus Schuld geschwiegen oder aus Angst, manchmal sind es Tabuzonen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, die nicht hinterfragt werden und die doch den Alltag regeln, manchmal beschweigen sie die eigene Scham, manchmal die der anderen, manchmal verleugnen sie Stärken, manchmal Schwächen, es kann ein uneheliches Kind sein, das beschwiegen wird, eine Behinderung oder auch das eignen Glück, ein besonderes Talent, eine Begabung, die nicht passt in die Welt, aus der sie herausragt, eine Empfindsamkeit, die störend wirkt in einem rauen Umfeld, was auch immer als zu komplex, zu erklärungsbedürftig, zu widerspenstig für ein konventionelles Gespräch unter Fremden angenommen wird, all das kann verstümmelt, verklärt, verändert werden.


    Meist sind es ganz banale Fragen, die mich aus dem innersten Kreis der Wahrheit vertreiben und in den nächsten schicken, den, in dem ich etwas weglasse, mich zurückhalte, beginne etwas zu verschweigen. (Seite 131/132)





    Es ist nicht "gut" oder "schlecht", homosexuell zu sein, es IST. So wie es auch kein moralisches Vergehen ist, heterosexuelle, transsexuell oder bisexuell zu sein, sonder es IST. Es ist EINE Form des Lebens, angeboren oder erworben, angenommen oder gewählt, wechselnd oder beständig, das spielt überhaupt keine Rolle, weil die vielfältigen Arten des Begehrens für normative Fragen keine Rolle spielen, Es macht mich nicht unsicher oder sicher, nicht schamhaft oder stolz, die Tatsache selbst ist ein Tatsache, sonst nichts. (Seite 171/172)