Jeder Zweite liebäugelt zumindest kurzfristig auch mit dem eigenen Geschlecht, sagen Wissenschaftler.
Bei den meisten spielt sich das bisexuelle Begehren nur im Kopf ab, inzwischen aber wagen immer mehr Männer und Frauen das aufrührende Experiment.
Ein kleiner Kuss genügte, und die Welt staunte, als sei das Knutschen gerade erst erfunden worden. Als sich Madonna und Britney Spears bei den MTV-Awards einen Zungenkuss gaben, waren ihnen die Schlagzeilen der Boulevardblätter sicher. Mit einem bisschen Bi in den Musik-Videos schafften es auch die dünnen russischen Stimmchen von Tatu in die Charts. Bi beflügelt die Fantasie. Bi heißt für viele: aus allen Töpfen naschen, an allen Ufern landen, in allen Revieren jagen.
Verstört und fasziniert
Die Popkultur bedient sich gerne der Irritation, die Bisexualität offensichtlich auslöst. Die Vorstellung, sich mit dem einen wie dem anderen Geschlecht zu vergnügen, verstört und fasziniert. Mehr als alle anderen Stars hat Madonna in den vergangenen Jahren bürgerliche Tabus geschreddert. Immer wieder rekelte sie sich in ihren Videos mit Männern und Frauen. Sie hat damit das Bild der Bisexualität maßgeblich geprägt: Wer bi ist, lebt allzeit gierig, hemmungslos und geil.
Ein Klischee, das mit der Realität wenig zu tun hat. Dennoch hält Jürgen Höhn, der am Berliner Zentrum für bisexuelle Lebensweisen Beratungen anbietet, die öffentlichen Aushängeschilder für wichtig: "Das Spiel mit bisexuellen Bildern in der Mode oder in der Popmusik macht vielen Mut, sich zu ihren Impulsen zu bekennen." Wer bei Freunden und Bekannten hinhört, entdeckt eine neue Lust am Experiment. Beste Freundinnen erzählen sich, dass sie Frauenkörper viel erotischer finden als dicke Ehebäuche. Auf Partys sichern sich auch Nichtluder die Aufmerksamkeit mit der Anekdote, wie sie es mal mit einer Frau ausprobiert haben. Männer, die bei einem Date mit einer Frau von ihren Liebeserfahrungen mit Männern berichten, wecken Neugier bei ihrer Flirtpartnerin. Das Bekenntnis, sexuell zwischen den Welten zu wandern, ist kein Liebestöter mehr, sondern ein Aphrodisiakum.
Katalysator für ruhende Neigungen
Die Nischen der großen Freiheit in Großstädten wie Köln, Berlin oder Hamburg und die Anonymität des Internets wirken wie ein Katalysator für bislang ruhende bisexuelle Neigungen. Die Kontaktbörsen im Internet sind voll von Frauen, die es mit einer Frau ausprobieren möchten, und Männern, die eine schnelle Begegnung mit anderen Männern suc hen, zusätzlich zur eigenen Frau. Wer will, der kann. Alles ist möglich.
In der schwulen Community werden Bi-Männer oftmals nicht ernst genommen. Sie müssen sich anhören, dass sie in Wirklichkeit gar nicht schwul seien, weil sie es ja doch lieber mit Frauen täten. Oder dass sie nur zu feige seien, sich zu ihrem Schwulsein zu bekennen. Wer sich bi fühlt, will sich jedoch weder von Homo- noch von Heterosexuellen vereinnahmen lassen. Nach Einschätzung des Hamburger Sexualwissenschaftlers und emeritierten Professors Gunter Schmidt eine Haltung, die zu einem Trend anwachsen könnte: "Die Geschlechtsoffenheit wird in den liberalen Großstädten zunehmen. Vielleicht wird in Zukunft häufiger nach erotischer Aura und Flair ausgesucht werden als nach dem Geschlecht."
Schmerzhaft für andere, und für einen selbst
Doch die neue Experimentierfreude bereitet nicht nur Lust. Jürgen Höhn wird in seinen Beratungen immer wieder Zeuge schwerer Lebenskrisen: "Wenn sich in einer lesbischen Beziehung eine der Partnerinnen in einen Mann verliebt, sind die Hyänen los. Die andere betrachtet das oft als Verrat an der Frauenbewegung." Die Entscheidung für ein bisexuelles Leben kann schmerzhaft sein. Für andere, und für einen selbst.
Der Moment, in dem das eigene Geschlecht bislang unbekannte Lust entfacht, kommt häufig einem Erdbeben gleich. Der Boden wankt, die Gewissheiten fallen. Ein Mann, der sich als Beschützer und Frauenheld sieht, ist tief verunsichert, wenn er die Liebe zu einem anderen Mann in sich entdeckt. "Am schwierigsten ist die Situation, wenn eine Partnerschaft besteht", sagt Jürgen Höhn, "wer eine Familie hat, wird von großen Schuldgefühlen geplagt, der Verantwortung diesen Menschen gegenüber nicht gerecht zu werden. Bei den Angehörigen besteht große Angst." Immer wieder wenden sich Ehefrauen an seine Einrichtung, deren Partner mit einem anderen Mann fremdgegangen sind. Gestern waren ihre Männer für diese Frauen noch der Fels in der Brandung, heute wissen sie nicht mehr, wer und wie ihre Partner sind.
Wer bin ich?
Es sind nach Höhns Erfahrung meistens die Frauen, die Hilfe suchen. "Die Männer igeln sich häufig ein", berichtet er, "manche schotten sich aggressiv ab, manche werden depressiv." Umgekehrt empfinden es Männer als weniger bedrohlich, wenn ihre Frauen sich auch zu Geschlechtsgenossinnen hingezogen fühlen, weil die Vorstellung von zwei liebenden Frauen ein klassischer Männertraum ist. Im wirklichen Leben, in dem es Eifersucht gibt und die Angst, verlassen zu werden, ist die Konstellation dann doch schwieriger als gedacht. Meist dauert es lange, bis ein Grenzgänger akzeptiert, dass er sich für beide Geschlechter interessiert. Die Berliner Psychotherapeutin Dorothea von Haebler berichtet von Männern und Frauen, die mit ihrer Bisexualität zunächst nicht fertig werden, die wissen wollen: Wer bin ich sexuell? In der Therapie versucht von Haebler mit ihren Patienten zu ergründen, was sie wirklich wollen in ihrem Leben. Das kann sowohl die Festigung der Entscheidung sein, bisexuell zu leben, als auch der Entschluss, das bisexuelle Experiment zu beenden. "Die Frage der Identität hat nicht nur mit den sexuellen Vorlieben zu tun. Ebenso wichtig sind etwa Gefühle, Religion, Erziehung, Wertvorstellungen." Anders gesagt: Wer an seiner Bisexualität zweifelt, muss herausfinden, ob sie ihn glücklich macht oder nicht.
Auch für die Sexualforschung ist die Bisexualität ein schwieriger Stoff. Der legendäre Kinsey-Report von 1948 lieferte das provokante Ergebnis, dass sich 46 Prozent der untersuchten Menschen bisexuell verhielten. Darunter fielen jedoch auch alle, die ein einziges homosexuelles Erlebnis hatten oder lediglich gleichgeschlechtliche sexuelle Fantasien. Seitdem orientieren sich immer noch viele Sexualwissenschaftler an Kinsey's Ergebnissen, dass etwa die Hälfte ausschließlich heterosexuell sei, ein geringer Prozentsatz homosexuell und eben fast die Hälfte der Gesellschaft mehr oder weniger bisexuell. Ganz anders fallen dagegen die Ergebnisse aus, wenn gefragt wird, wer sich selbst als bi-sexuell bezeichnet. In einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 1994 zum Sexualverhalten der Bundesbürger ordneten sich nur 3,4 Prozent der Männer und 4,5 Prozent der Frauen als bisexuell ein.
Ist also ein Mensch bisexuell, wenn er sich so verhält? Oder muss er sich als Bisexueller fühlen? Die Frage beantworten Sexualwissenschaftler höchst unterschiedlich. Denn noch warten grundlegende Fragen auf Antworten: Ist dem Menschen eine bestimmte Sexualität angeboren? Oder ist sie ausschließlich das Ergebnis von Umwelteinflüssen? Oder eine Mischung aus beidem?
Seit dem 19. Jahrhundert haben die Sexualwissenschaftler großen Ehrgeiz darauf verwandt, die Sexualität des Menschen zu vermessen. Kinsey hatte eine siebenteilige Skala eingeführt, die von ausschließlich heterosexuellem Verhalten mit der Ziffer 0 bis zu ausschließlich homosexuellem Verhalten mit der Ziffer 6 reichte. Wer nach der Kinsey-Skala eine Drei bekam, durfte sich bisexuell nennen. Wer eine Fünf bekam, wurde als ein kleines bisschen bi eingestuft.
"Wissenschaftlich gesehen macht die Einteilung in Homo-, Hetero- und Bisexuelle keinen Sinn", sagt der Berliner Sexualforscher und Professor Erwin J. Haeberle. "Wenn Sie genau hinsehen, lösen sich diese willkürlichen Kategorien in Wohlgefallen auf. Es gibt schwule Väter und lesbische Mütter. In Gefängnissen und Kasernen kann es zu gleichgeschlechtlichen Kontakten kommen, die draußen sofort wieder aufhören. Was hat man davon, wenn man die alle als bisexuell bezeichnet?"
Vor allem erlauben Erkenntnisse über sexuelles Verhalten keine verlässlichen Prognosen für die Zukunft: Wer gestern schwul war, kann morgen seine Traumfrau treffen. Der glücklich verheiratete Ehemann kann als Rentner entdecken, wie verführerisch Männer sein können - ohne dass ihn Frauen dann kalt lassen müssen.
In die eine oder in die andere Richtung
Viele Wissenschaftler und Psychologen arbeiten heute mit der Hypothese, dass alle Menschen mehr oder weniger bisexuell veranlagt sind und ihre sexuelle Orientierung im Laufe ihres Lebens erst entwickeln - in die eine oder die andere Richtung. Oder in beide. "Eine häufige Variante ist sicher die, in einer Hetero-Partnerschaft zu leben und vielleicht einmal in der Woche einen homosexuellen Partner aufzusuchen", sagt Jürgen Höhn. Aber der bekennende Bisexuelle kennt auch viele andere Spielarten: "Manche wollen zwei Menschen von Herzen lieben. Und es gibt sicher auch den Typus, der sich schnell auf dem Rastplatz einen blasen lässt."
Was daherkommt wie eine Modeerscheinung, haben jedoch weder die Sexualwissenschaftler des 19. Jahrhunderts noch Art Direktoren von MTV erfunden. Sex mit beiden Geschlechtern gab es in vielen Kulturen. "Für die alten Griechen und Römer war es noch eine Selbstverständlichkeit, dass Männer sowohl für männliche als auch für weibliche Reize empfänglich waren", sagt Sexualwissenschaftler Haeberle. In ihrem Buch "Die Vielfalt des Begehrens - Bisexualität von der Antike bis heute" öffnet die Harvard-Professorin Marjorie Garber ein opulentes Album bisexueller Persönlichkeiten, von Oscar Wilde bis Virginia Woolf.
In Biografien sind die bisexuellen Neigungen von Marlene Dietrich beschrieben. Sie war eine Sexikone ihrer Zeit, Vamp und Diva, reizvoll und bedrohlich zugleich, für beide Geschlechter. Das moderne Rollenvorbild ist eher TV-Mann Jürgen Domian, der im WDR-Fernsehen die Kult-Talkshow "Domian" moderiert und sich öffentlich zu seinen bisexuellen Neigungen bekennt.
"Alles ist erlaubt, solange es gut tut und niemandem schadet"
Bei Domian erscheint Bisexualität nicht mehr bedrohlich, sondern normal, ist nicht mehr Abgrund, sondern Spielart. In seiner Talkshow erzählen Menschen, welches Liebesleid sie mit Männern, Frauen oder beiden erleben. Sie erzählen unaufgeregt. Doch ihre Geschichten haben es oft in sich. So wie die des verheirateten jungen Mannes, der seit Jahren eine Liaison mit dem Bruder seiner Ehefrau hat. Domian ordnet in seinen Gesprächen Gefühlschaos und Geschlechterverwirrung.
Sein Credo: Alles ist erlaubt, solange es gut tut und niemandem schadet.
Sexualwissenschaftler Erwin J. Haeberle kennt viele Beispiele, die belegen, dass Bisexualität auch eine Frage der Zeit ist: In einem sexuellen Tagebuch hielt ein Mann fest, dass er nach einem intensiven heterosexuellen Leben im Alter von 30 Jahren die Männer für sich entdeckte. Acht Jahre lang hatte er danach Sex mit Männern. Danach nie wieder. Die anschließenden 40 Jahre hatte er ausschließlich Sex mit Frauen. In einer Untersuchung unter bekennenden Bisexuellen, die von der Psychologin Birgit Sunhilt Penninger im Jahr 1999 in Berlin veröffentlicht wurde, gaben 49 Prozent der Befragten an, erst seit einem bis fünf Jahren bisexuell zu sein. Lediglich 22 Prozent bezeichneten sich schon immer als bisexuell. 72 Prozent der Befragten lebten zuvor heterosexuell.
Das Hingezogensein zu beiden Geschlechtern bedeutet im Gegensatz zu gängigen Vorurteilen nicht, es jederzeit mit jedem und jeder zu treiben - doch ist ein bisexuelles Leben häufig das radikale Gegenteil der bürgerlichen Liebeslaufbahn. Traute Zweisamkeit bis ans Lebensende verträgt sich schlecht mit einem Verlangen, das der Partner allein nicht stillen kann. In der Untersuchung der Psychologin Penninger gaben 67 Prozent der Befragten an, in der Vergangenheit Mehrfachbeziehungen geführt zu haben. Von diesen multipel Liebenden hatten 45 Prozent eine feste Beziehung und nebenher eine oder mehrere Affären. Immerhin 29 Prozent hatten jedoch bereits die Erfahrung gemacht, zwei gleichwertige feste Beziehungen zu führen.
Dreiecksbeziehungen sind heikel. Wer verliebt ist, will in seinem Leben alles teilen - aber nicht den Partner. In einem Dreieck kann aber nur leben, wer die Vorstellung ertragen kann, dass der Geliebte gerade bei einem anderen im Bett liegt. Und Spaß hat dabei. Die Psychologin Dorothea von Haebler erfährt von ihren Patienten, wie schwierig diese Beziehungen sein können: "Sobald ein Bisexueller eine feste Beziehung hat, gibt es Probleme um Treue und Vertrauen. Und falls es zu einer Dreiecksbeziehung kommt, prallen drei Dynamiken aufeinander, das macht es deutlich komplizierter. Da gibt es zum Beispiel den Vermittler, den Hin- und Hergerissenen, den Sehnsüchtigen, und jeder hat sein ganz eigenes Leid."
"Care and share"
Die Lust auf beide Geschlechter führt jedoch nicht zwangsläufig auf einen Leidensweg. Jürgen Höhn berät auch Dreiecksbeziehungen, die über Jahre halten. Und in denen die Partner glücklich sind. "Die Dreierbeziehung braucht eine hohe menschliche Reife der Partner", sagt Höhn. Für viele ist Offenheit eine notwendige Voraussetzung. Dieses bisexuelle Grundgesetz predigt auch Jürgen Höhn, wenn Verunsicherte seinen Rat suchen: "Wir haben hier das Motto care and share - unterstütze deinen Partner und teile mit ihm dein Leben. Zeig wer du bist."
Die Angst, verlassen zu werden, verwandelt sich so häufig in eine nie gekannte Nähe. Höhn erzählt von einem Paar, das ihn nachhaltig beeindruckt hat: Ein Mann, der seine Frau lange Zeit über seine Bisexualität angelogen hatte, erkrankte an Leukämie. Erst jetzt offenbarte er sich seiner Frau, erzählte ihr von den Männern in seinem Leben. Sie begannen, sich all die Heimlichkeiten zu beichten, die sie lange Jahre verschwiegen hatten. Der Mann ist mittlerweile von der Leukämie geheilt. Höhn trifft die beiden regelmäßig, er sagt: "Sie führen jetzt eine wundervolle Beziehung."