Die Symbioseproblematik oder der Wunsch nach Verschmelzung und Individualität

  • Am Donnerstag, 05. Juli 2012 fand wie jeden ersten Donnerstag im Monat der Bi-treff statt. Das Thema, das sich nach der Vorstellungs- und Befindlichkeitsrunde herauskristallisierte, war die Symbiose-Problematik, respektive die Identitätsfindung. Sieben bisexuelle TeilnehmerInnen, zwei Frauen und fünf Männer gaben ihre ganz persönlichen Erlebnisse zu diesen Themen in die Runde. Die Aussagen waren wie immer offen und ehrlich und gingen sehr in die Tiefe. Weil wir die strikte Abmachung haben, keine persönlichen Aussagen aus dieser Gruppe nach aussen zu tragen, beschreibe ich hier auch nicht die einzelnen persönlichen Erlebnisse, sondern versuche die Quintessenz dieses Abends, die Einsichten, die wir gemeinsam erarbeitet haben, hier zu schildern.


    Nach den persönlichen Erlebnisberichten versuchten wir den Begriff Symbiose anhand der Erlebnisberichte genauer zu definieren. Der Begriff wird in der Biologie dafür gebraucht, das Zusammenspiel eines Wirtes und eines Gastes zu beschreiben, wie z. B. bestimmte Pilzarten von einem Baum Kohlenhydrate beziehen, im Gegenzug dem Baum Mineralstoffe und Wasser aus dem Boden liefern.
     
    Die Wikipedia sagt zum psychologischen Begriff Symbiose: „Eine Symbiose in Partner-Beziehungen zwischen Erwachsenen besteht bei krankhafter Abhängigkeit eines oder beider Partner. Hier ist die frühkindliche Abhängigkeit von der Mutter nicht in einem gesunden Entwicklungsprozess aufgelöst worden, sondern besteht weiterhin oder wird auf den Partner oder andere wichtige Bezugspersonen übertragen. Als Sucht kann sich dies in Form von Beziehungssucht, Co-Abhängigkeit bis hin zur Hörigkeit äußern.“
    Problematisch wird die Beziehungs-Symbiose für die Beteiligten, weil darin meistens eine Rollenverteilung stattfindet. Die eine Seite gibt z.B. alle eigenen Wünsche nach Individualität auf und lebt ganz und gar nach den realen und fantasierten Ansprüchen, die der Symbiosepartner stellt ob sie nun ausgesprochen sind oder nicht. Die andere Seite nimmt all die Dienstleistungen und Hilfestellungen an und lebt vermeintlich ihr eigenes Leben, ist aber nicht unabhängig und alleine oft gar nicht Lebensfähig. Häufig findet in Krisenzeiten auch die Rollenverteilung statt, dass die eine Partei ängstlich klammert, und/oder eifersüchtig ist, nicht loslassen kann, und das Gegenüber sich eingeengt fühlt und Ausbruchswünsche entwickelt.
    Praktisch alle Anwesenden haben so eine Situation in einer heterosexuellen Partnerschaft erlebt. Entweder löste sich die Symbiose, weil sie das homosexuelle Verlangen dazu trieb, oder sie lösten die Symbiose aus innerer Notwendigkeit und fanden dann in der neuen Freiheit den Zugang zu ihrer Bisexualität.
    Doch auch gleichgeschlechtliche Beziehungen sind vor Symbiosewünschen nicht gefeit, die Regulierung von Nähe und Distanz ist wie in einer gegengeschlechtlichen Partnerschaft eine Aufgabe, die gelöst werden will.


    Hier entdeckten wir den Unterschied zwischen Symbiose und dem Wunsch nach Verschmelzung mit dem geliebten Menschen. Oft ist es so, dass gerade bei gleichgeschlechtlichen Begegnungen extrem intensive Nähe entsteht, da der Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt sowie zur Sexualität als einfacher und direkter erlebt wird, und eine zärtliche, liebevolle, tiefgehende Berührung auf allen Ebenen stattfindet. Der Wunsch nach Verschmelzung führt aber nicht automatisch zur Symbiose wenn er im vollen Bewusstsein zugelassen wird, dass es sich bei der Verschmelzung um eine vorübergehende Nähe handelt. Das Erlebnis, sich im anderen zu Spiegeln, sich in ihm zu erkennen, mit ihm einig und eins zu sein ist wahrscheinlich einer der schönsten Zustände, die in einer Begegnung zweier Menschen stattfinden kann. Bedingung, dass dies nicht zur Symbiose ausartet ist, dass sie zwei Individuen erleben, die zur gegebenen Zeit wieder zurück in ihre eigene Individualität, in ihr eigenes Leben finden, dahin, wo die eigenen Bedürfnisse wahrgenommen und gelebt werden können und auch die Unterschiede der beiden Persönlichkeiten anerkannt und geschätzt werden, oder bei Unstimmigkeiten eine ehrliche Auseinandersetzung stattfindet.