Ein schöner Artikel, - wie ich finde .....

  • von Alexander_ Eul vom 14.05 2009


    Neon.de - Sex- Alles offen



    Alles offen


    Hartnäckig halten sich Ressentiments gegen BISEXUELLE: Sie wollten sich nicht festlegen, seien zu feige, sich zu einem Geschlecht zu bekennen, heißt es. Dabei sind wir alle bisexuell - und verdrängen es.




    Am Anfang schob Christina Tange das Herzklopfen auf die Hormone. Mein Körper spielt verrückt, das kann vorkommen, dachte sie. Doch dann war da noch dieses Bild aus der Vergangenheit, das vor ihrem inneren Auge auftauchte: wie sie mit sechzehn neben ihrer besten Freundin auf dem Bett sitzt. Sie blicken sich tief in die Augen, nur für einen kurzen Moment. Damals reichte dieser Moment, um Christina aus der Fassung zu bringen; sie flüchtete in die Küche. Heute sagt sie: »Ich habe es mir lange nicht eingestanden. Aber ich war verliebt.« Wie aus dem Nichts war dieses Gefühl Jahre später wieder da.


    Christina Tange ist bisexuell. Darüber spricht die Wahlhamburgerin erst seit ein paar Monaten; die vergangenen vier Jahre lebte die technische Zeichnerin mit ihrem Freund zusammen. Eine normale Beziehung mit alltäglichen Problemen: Wer putzt die Küche, wer bringt den Müll runter? Irgendwann waren die Probleme größer als die Zuneigung. Christina machte Schluss. »Ich wusste erst gar nicht, was los ist«, sagt die 24-Jährige. Wie aus dem Nichts fühlte sie sich zu einer Frau hingezogen, die sie Jahre nicht gesehen hatte - zu ihrer ehemals besten Freundin. Gleichzeitig wusste sie, dass sie ihren Freund immer sehr geliebt hatte. Die Verwirrung war perfekt.


    Christina Tange nahm Kontakt zur Jugendfreundin auf. Die beiden trafen sich in einem Restaurant. Zuerst war Christina schrecklich aufgeregt. Es dauerte ein wenig, bis sie ihren Mut zusammennehmen konnte; schließlich gestand sie ihre Gefühle. Christina wusste, dass ihre Freundin hetero war. Es blieb bei dem Gespräch: Die Freundin hatte Verständnis, mehr nicht. Trotzdem hat sich seitdem in Christinas Leben etwas verändert. »Es war plötzlich so, als ob ich den Schlüssel zu einem Schloss gefunden hätte, das bisher einen Teil meiner Persönlichkeit verriegelt hatte«, sagt Christina über die Entdeckung der eigenen Sexualität. Diesen Schlüssel zu finden, ist für Bisexuelle besonders schwer. Denn obwohl sich 3,4 Prozent aller Männer und 4,5 Prozent aller Frauen in Deutschland als bisexuell einschätzen, sind Bisexuelle hierzulande so gut wie unsichtbar - und können schlecht als öffentliches Vorbild dienen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wenn ein Paar Arm in Arm durch die Stadt läuft, wird es entweder als heterosexuell oder als homosexuell wahrgenommen. Dass der Mann, der gerade einen anderen Mann an der Hand hält, gar nicht schwul sein muss, sondern sich vielleicht auch zu Frauen hingezogen fühlt, darüber denkt niemand nach.


    Ein anderer Aspekt, der den Bisexuellen das Leben schwer macht, ist das tief verwurzelte sexuelle Schablonendenken. Zwar legte die sexuelle Revolution in den 60er und 70er Jahren den Grundstein dafür, dass sich nachwachsende Generationen von der Prüderie der 50er Jahre befreien und offener mit ihrer Sexualität umgehen konnten. »Heute werden sogenannte Perversionen wie Fetischismus oder Sadomasochismus nicht mehr als krankhaft angesehen, von der Homosexualität ganz zu schweigen«, sagt Volkmar Sigusch, ehemaliger Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt und einer der angesehensten Sexualwissenschaftler weltweit. Doch obwohl die sexuellen Freiräume noch nie so groß waren wie heute, halten sich die Vorurteile. Sie seien promisk und wollten von beiden Kuchen naschen, an beiden Ufern anlegen - das ist das Bild, das die Gesellschaft von Bisexuellen hat. Zu stark verankert ist die heterosexuelle Partnerschaft, mit der wir groß werden und die uns überall begegnet. Hinzu kommt, dass Bisexuelle aufgrund größerer Wahlmöglichkeiten in den Köpfen vieler Heterosexueller ein - vermeintliches - Mehr an Sexualität ausleben. Nach wie vor werfen viele Heterosexuelle Bisexuellen daher vor, dass sie hypersexuelle Swinger seien, die mit jedem ins Bett gehen wollten. Viele Homosexuelle wiederum meinen, Bisexuelle wären verkappte Schwule, auf der Strecke geblieben auf ihrem Weg zum Coming-out. »Weil unsere Gesellschaft in Hetero und Homo eingeteilt ist«, sagt Professor Sigusch, »passt Bisexualität nicht in ihr Raster. Das setzt Bisexuelle nicht nur unter den Druck, der durch Missgunst entsteht, sondern auch unter den Druck, sich zu entscheiden« - und letztlich ihre Sexualität zu leugnen.


    Und während sich Schwule und Lesben in vielen Großstädten klar sichtbare Freiräume, etwa in Form »eigener« Viertel erkämpft haben, fehlt den Bisexuellen dies ganz - was nicht zuletzt daran liegen könnte, dass die Formen der Bisexualität so unterschiedlich sind wie die Menschen, die sie ausleben. Auch der pubertierende Jugendliche, der aus Neugier mit einem Freund onaniert, obwohl er sich in Mädchen verliebt, auch viele eigentlich heterosexuelle Frauen und Männer, in deren Köpfen hin und wieder homoerotische Fantasien aufleben, sind bisexuell. Einige verlieben sich sowohl in Frauen als auch in Männer. Andere ziehen, je nach Phase, mal Männer und mal Frauen vor. Und andere verlieben sich nur in Partner des anderen Geschlechts, fühlen sich sexuell aber zum eigenen Geschlecht hingezogen.


    Christina hatte bisher nur eine Affäre mit einer Frau. Sie lernten sich beim Chatten kennen. Eines Abends gestand ihr die Internetbekanntschaft, dass sie mehr für sie empfinde. Die beiden trafen sich noch in derselben Nacht. »Das war sehr aufregend«, sagt Christina. Kurz darauf schlenderten sie Hand in Hand durch die Straßen. Spürten die Blicke der Passanten. Zum ersten Mal hatte Christina leidenschaftlichen Sex nicht mit einem Mann. »Frauen fühlen sich viel weicher an als Männer «, sagt sie.


    Trotzdem, Männer findet sie genauso toll. Manch mal, wenn Christina ausgeht, steht sie an der Bar und ertappt sich dabei, wie sie erst einer Frau hinterherstarrt und dann Blicke mit einem Mann austauscht. Sie genießt diese Freiheit. Deshalb will sie nicht nur zu lesbischen Frauentreffen gehen. »Da kann ich nicht offen über Männer sprechen«, sagt Christina.


    Der Freiraum zwischen den zumeist strikt getrennten Welten Hetero und Homo ist vielfältig, lebendig und komplex; Wissenschaftler haben ihn nur in Ansätzen erforscht. In den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sorgte der US-amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey mit seinem legendären Kinsey- Report für Aufsehen. Der Empiriker hatte 18 000 Männer und Frauen nach ihrer sexuellen Orientierung befragt. Heraus kam, dass 37 Prozent der männlichen und 13 Prozent der weiblichen Befragten »zumindest einige physische homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus « gehabt hätten. Fast jeder Zweite gab an, schon einmal bisexuell empfunden zu haben. Damit hatte im Nachkriegsamerika wirklich niemand gerechnet.


    Kinsey ordnete die sexuelle Orientierung seiner Probanden anhand einer Skala ein, die sieben Stufen aufwies. Als Anfang und Ende seiner Skala definierte er Hetero- und Homosexualität. Die fünf Zwischenstufen beschrieb er als unterschiedlich intensiv ausgeprägte Stufen von Bisexualität, die fließend ineinander übergingen. »Man darf die Welt nicht in Schafe und Böcke einteilen«, resümierte Kinsey und behauptete, dass man alle Formen des menschlichen Sexualverhaltens als natürlich betrachten müsse.


    Dass die Vorbehalte gegen Bisexuelle trotzdem überlebten, wird deutlich, wenn man sich die Ergebnisse der jüngeren Sexualforschung anschaut - etwa, wenn gefragt wird, wer sich selbst als bisexuell bezeichnet. Dass sich in einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 1994 zum Sexualverhalten der Bundesbürger - wie weiter oben erwähnt - nur 3,4 Prozent der Männer und 4,5 Prozent der Frauen als bisexuell einordnen, muss vor dem Hintergrund von Kinseys frühen Forschungen wohl als Ausdruck von Angst gedeutet werden, sozial unerwünscht zu antworten.


    Angst und Vorurteile stecken auch in den drei Sätzen, die der 33-jährige Pianist Björn Huestege einfach nicht mehr hören kann. Satz eins: »Du kannst dich nicht entscheiden.« Satz zwei: »Toll, du hast die doppelte Auswahl!« Und Satz drei: »Das ist bestimmt nur eine Phase!« Aussagen, die Björn immer wieder begegnen, seit er vor mehr als zehn Jahren mit einem Arbeitskollegen im Auto saß und das erste Mal sagte: »Ich bin bisexuell.«


    Es war früh am Morgen, Björn und sein Kollege waren auf dem Weg in das Klinikum, in dem Björn arbeitete. Sein Beifahrer schwärmte von einem jungen Mann aus dem Ensemble am Essener Theater. Wie hübsch, wie nett er sei. Wie süß und sexy. Björn dachte nur: Ja, finde ich auch. Dabei hatte er gerade seine Freundin verlassen. Dass er bisexuell ist, hatte er nicht einmal ihr erzählt. »Die hätte mich doch zur Hölle gejagt«, sagt er.


    Björn war damals neunzehn - und an diesem Tag im Auto hatte er keine Lust mehr, länger zu schweigen. Er sagte dem Kollegen, dass er den jungen Schauspieler ebenso süß fände - und nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer stehe. Und zwar schon immer.


    Mittlerweile lebt Björn in Hamburg. Er arbeitet an der Staatsoper. Dort studiert er mit den Darstellern ihre Rollen ein, übt die Interpretation der Musikstücke. Seit er aufgehört hat, sich ständig für seine Bisexualität zu rechtfertigen, bezeichnet sich Björn als glücklich. »Seit dem Tag im Auto habe ich mich bei meinen Freunden geoutet«, sagt Björn. Dabei hatte er nie Angst vor seiner Sexualität. Er hatte Angst, dass sein Umfeld ein Problem damit haben könnte - weshalb er Sätze wie »Das ist nur eine Phase« so unverschämt findet, schließlich hat er sich lange und ausführlich mit seiner Sexualität auseinandergesetzt. »Das klingt vielleicht albern, aber ich wusste schon im Kindergarten, dass ich bi bin«, sagt er. Natürlich hatte er damals noch keine Vorstellung davon, was das bedeutet. Aber er fand Jungs und Mädchen immer gleich nett, gleich hübsch und gleich interessant. Von einer Phase, findet Björn, kann bei ihm seit der Schulzeit wirklich nicht die Rede sein.


    Und auch von der doppelten Auswahl, die man ihm zuspricht, hat Björn bisher nicht viel mitbekommen. »Ich verliebe mich nicht in jeden, nur weil ich bi bin«, sagt er. Im Gegenteil: Björn findet es schwierig, einen Partner zu finden. Als er das erste Mal in eine Schwulenbar ging, war er überrascht, wie schnell er jemanden kennen lernte. »Es lief sofort was zwischen uns«, sagt Björn. Dann folgte die Ernüchterung: Ein paar Tage später erklärte der Mann, dass er mit Bisexuellen gerne ins Bett gehe, mehr sei allerdings nicht drin. Weil Bisexuelle nicht treu seien. »Die Leute denken oft, wir bespringen alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist!«, sagt Björn.


    Dass er sich sehr schnell für jemanden entscheiden kann, weiß Björn, seit er seine erste große Liebe traf. Björn studierte Musikwissenschaft, und sein Gesangslehrer stellte ihm seinen zukünftigen Freund vor. Wie sich herausstellte, wohnten die beiden im selben Stadtteil von Essen. Erst trafen sie sich zufällig wieder, dann zum Videoabend bei Björn. Danach waren sie drei Jahre lang zusammen. Treue findet Björn in Beziehungen selbstverständlich. »Ich will nicht ständig etwas mit einer Frau haben, wenn ich mit einem Mann zusammen bin«, sagt er. »Seltsam, dass viele mir so etwas unterstellen.«


    Zumindest von Zeit zu Zeit kommt Björn mit engen Freunden über seine Sexualität ins Gespräch. Es ist noch gar nicht lange her, da konnten Bisexuelle noch nicht mal darauf bauen; lange war ihre Existenz tabu. Erst als Anfang der 80er Jahre erstmals das HI-Virus in Amerika auftauchte und immer mehr Menschen dahinraffte, rückten Bisexuelle in das Licht der Öffentlichkeit. AIDS wurde zu diesem Zeitpunkt noch als »Schwulenseuche« bezeichnet, weil sich vor allem homosexuelle Männer mit dem Virus infizierten. Der Umkehrschluss traf Menschen wie Björn und Christina hart: Epidemiologen warnten vor bisexuellen Männern, die die »Seuche AIDS« auch in heterosexuelle Kreise einschleusen würden. Dieser krude Vorwurf mobilisierte Bisexuelle vor allem in den USA, sie organisierten Demonstrationen, um sich gegen die Verteufelung zu wehren. Letztlich schwappte mit dem HI-Virus auch die Welle der Entrüstung auf Europa über und sorgte hierzulande für die Entstehung einer Bi-Bewegung.


    Heute weiß man, dass AIDS keine Schwulenseuche ist. Trotzdem fehle es jungen Menschen an öffentlichen bisexuellen Figuren, glaubt Sexualwissenschaftler Sigusch. »Öffentliche Vorbilder sind in zweierlei Hinsicht wichtig«, sagt er. Einerseits, weil sich Bisexuelle mit ihnen identifizieren können und so ein Stück Normalität erfahren. »Aber auch, weil Bisexualität dadurch normalisiert wird«, erklärt Sigusch. Er nimmt die empirische Erkenntnis auf, die Kinsey mit seinem Report vor Jahrzehnten hinterließ: »Unbewusst sind wir alle bisexuell«, sagt er. Wir alle können uns in Männer und in Frauen verlieben, wenn wir das gewohnte, starre Denken ablegen und uns auf eine neue Erfahrung einlassen. »Die einen kriegen das in den Kopf, leben es aus«, sagt Sigusch. »Andere kriegen es zwar in ihren Kopf, leben es aber nicht aus - weil es in unserer Kultur unmöglich gemacht wird.«


    Christina wundert sich nicht darüber, dass sie diesem Druck nachgegeben hat. Wie hätte sie ihre Gefühle verstehen sollen? In ihrer Lieblingsdisko in ihrer Heimatstadt Schwerin sah sie als Teenager zwar öfter ein lesbisches Pärchen. Aber bi? Christina wusste nicht, was das bedeutet. Auch in dem Jugendzentrum, in dem sie sich mit Freunden zum Billardspielen traf, gab es niemanden, mit dem sie über so ein Thema hätte sprechen können. »Bisexualität existierte nicht«, sagt Christina. Und natürlich habe sie mit ihren eigenen Vorstellungen von einem guten Leben gekämpft: einen Mann heiraten, Kinder kriegen, ein Haus bauen. Eine heterosexuelle Beziehung führen - so wie ihre Freunde und Bekannten.


    Heute blickt Christina Tange zuversichtlich in die Zukunft - und überhaupt nicht anspruchslos: Ein Magazin für Bisexuelle etwa fände sie gar nicht schlecht. »Vielleicht würden sich dann auch mehr Frauen eingestehen, dass sie in ihre beste Freundin verliebt sind«, sagt sie. Und Björn? Der wird wohl auch weiterhin auf keine Party gehen, ohne einen Freund zu treffen, der ihm eine Bekannte vorstellt. »Das ist Claudia. Ich bin mir sicher, ihr werdet euch verstehen!« Damit sei immer das Gleiche gemeint, sagt Björn. Ihr werdet euch verstehen, und dann könnt ihr heiraten und Kinder bekommen. Ein Heteroleben führen. Björn Huestege hat sich übrigens vor ein paar Wochen von seinem Freund getrennt. Ein paar Tage später ist er auf eine Geburtstagsparty gegangen. In der Küche stand eine hübsche junge Frau - und Björn war sofort verliebt. »Ich gehe offen durch mein Leben«, sagt Björn. Und letztlich liebe er ja auch kein Geschlecht, sondern einen Menschen. »Und ob dieser Mensch nun Mann oder Frau, bi oder nicht bi ist, ist doch eigentlich egal.«


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